Multisystem-Erkrankungen

Multisystem-Erkrankungen

Was sind Multisystem-Erkrakungen?

Allgemeines

Kipppunkte gibt es nicht nur beim Klima!

Wodurch kann die Menge an RNS und ROS zu groß werden?

Warum ist das Krankheitsgeschehen so komplex und schwierig zu behandeln?

Fazit

Literatur

Allgemeines

Die Nennung von zwei der bekanntesten Multisystem-Erkrankungen im Namen unseres Vereins ist keine zufällige Aufzählung.

Denn Chronische Multisystem-Erkrankungen (CME) wie CFS und MCS, aber auch Fibromyalgie oder Elektrosensibilität (ES/EHS) haben einen gemeinsamen pathologischen Stoffwechselhintergrund. Diesen Hintergrund zu berücksichtigen ist wichtig, denn er eröffnet mehr ursachenbezogene Therapiemöglichkeiten.

Im Mittelpunkt des pathologischen Stoffwechselgeschehens stehen sogenannte reaktive Sauerstoff- bzw. Stickstoff-Sauerstoffverbindungen (ROS/RNS).

ROS und RNS entstehen natürlicherweise vor allem bei drei Prozessen:

  • Energiegewinnung
  • Entzündungsreaktionen
  • Entgiftung

Im Normalfall kann die Zelle diese stark reaktiven Verbindungen abfangen und unschädlich machen.
Eine gewisse Menge ist sogar für den Stoffwechsel nötig. Zum Beispiel verwendet das Immunsystem solche Verbindungen zur Abwehr von Viren und Bakterien.
Ebenso wird z.B. die RNS-Verbindung NO (Stickstoffmonoxid) zur Regulierung der Weite der Blutgefäße gebraucht, ist Neurotransmitter und auch Teil der Entzündungskaskade.

Kipppunkte gibt es nicht nur beim Klima!

Aber wenn die Menge an ROS und RNS zu groß wird (oxidativer und nitrosativer Stress), können u.a. Zellstrukturen angegriffen (Membranen, Proteine, DNA) und auch zahlreiche Enzyme blockiert werden, die dann die entsprechenden Stoffwechselschritte nicht mehr ausführen können, was zu zahlreichen pathologischen Ausfällen führt.

Allgemein wird das Stoffwechselgleichgewicht empfindlich gestört, es kann sogar zum „Kippen“ gebracht werden. Dann ist es nicht einfach, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Häufig gehen diesem „Kippen“ jahrelange vom Patienten unbemerkte „Schieflagen“ des Stoffwechsels voraus.

Dann reicht der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dies kann ein Infekt sein, eine akute Fremd-/Schadstoffbelastung oder eine Operation – und man erholt sich nicht mehr oder reagiert auf zahlreiche Substanzen mit einer Unverträglichkeitsreaktion.

Wodurch kann die Menge an RNS und ROS zu groß werden?

Die Gründe hierfür können ganz unterschiedlich sein und sind bei jedem Patienten individuell. Meist kommen mehrere Faktoren zusammen.

  • Zum einen tragen alle chronisch entzündlichen Prozesse zu einem dauerhaft zu hohen ROS/RNS-Spiegel bei. Das kann (u.a.!) eine Darmentzündung sein, unerkannte Zahn- oder Kieferentzündungen, aber auch alle Allergien und Unverträglichkeiten (Nahrungsmittel, Baustoffe u.v.m.)
  • Ebenso alle chronisch entzündlichen Prozesse, die durch Viren, Bakterien oder Parasiten hervorgerufen werden, weil ein eventuell geschwächtes Immunsystem sie nicht in den Griff bekommt.
  • Auch Fremd- und Schadstoffe können eine unspezifische Aktivierung des Immunsystems hervorrufen.
  • Durch Schadstoffe geschädigte Mitochondrien können zu ROS-Schleudern werden
  • Was häufig übersehen wird: Eine instabile Halswirbelsäule kann ebenfalls entzündliche Prozesse hervorrufen und damit beispielsweise zu CFS, MCS oder anderen chronischen Erkrankungen führen.
  • Auch elektromagnetische Funksignale und Felder können oxidativen/nitrosativen Stress verursachen (s. ES-Bereich).
  • Des weiteren kann eine überlastete oder gestörte Entgiftung für einen zu hohen ROS-Spiegel sorgen.

Warum ist das Krankheitsgeschehen so komplex und schwierig zu behandeln?

1. Zum einen greifen hier mehrere Bereiche ineinander und pathologische Prozesse in dem einen Bereich haben auch negative Auswirkungen auf andere Bereiche.

Entstehen z.B. durch chronische entzündliche Reaktionen zu viele ROS- und RNS-Verbindungen, schädigt dies (u.a.!) die Mitochondrien, die kleinen Kraftwerke in jeder Zelle, und es kann nicht mehr genügend Energie bereit gestellt werden. Dies führt zu dem bekannten Energiemangelsyndrom.

Das hat weitere Folgen, wie oben schon erwähnt: Geschädigte Mitochondrien werden selber zu ROS-Schleuden, was dann wiederum andere Zellstrukturen schädigt sowie viele Stoffwechselwege, aber auch die Entgiftung sowie das Immunsystem negativ beeinflusst.

Oder ist z.B. die Entgiftung überlastet, entstehen zu viele der radikalischen Zwischenprodukte. Das senkt die Konzentration des Glutathions, des wichtigsten Antioxidants in der Zelle, weil es dazu gebraucht wird, diese Verbindungen unschädlich zu machen. Gleichzeitig braucht aber z.B. das Immunsytem für ein gutes Funktionieren einen gewissen Glutathion-Spiegel.

2. Dazu kommt, dass es zahlreiche positive Rückkopplungsmechanismen gibt, die, einmal in Gang gekommen, die entstandenen pathologischen Prozesse weiter aufrecht halten und auch verstärken.

Ein zentrales Beispiel: Der sog. Peroxynitrit-(PON)-Zyklus

Dieser Zyklus ist nach seiner schädlichsten RNS-Komponente, dem Peroxynitrit, benannt. Peroxynitrit hemmt zahlreiche Enzyme und damit Sotffwechselwege irreversibel, schädigt die DNA, greift Zellmembranen an und vieles mehr. Der Zyklus wird nach Martin Pall (Prof. em. für Biochemie und Grundlagen der Medizin) von verschiedenen, kurzfristig auftretenden Stressoren eingeleitet, die sich gegenseitig verstärken.

So aktiviert z.B. das durch oxidativen Stress entstehende Peroxynitrit seinerseits wieder entzündliche Prozesse, die wiederum den oxidativen Stress verstärken u.s.w.

Martin Pall schreibt: „… erzeugen die einzelnen Mechanismen [des Zyklus] zusammengenommen mehrere miteinander in Wechselwirkung stehende Teufelskreise, was die Chronizität der Erkrankungen, die Herausforderungen bei ihrer Behandlung und auch zahlreiche andere wichtige Faktoren erklärt.“

Hill et al. (s. Lit.) listen insgesamt 19 bekannte Verstärkungsmechanismen mit positiver Rückkopplung auf, die das Krankheitsgeschehen chronifizieren und fördern.

Es gibt im Stoffwechsel auch verschiedene negative Rückkopplungen, die z.B. Entzündungsreaktionen wieder eindämmen. Ab einem bestimmten Level können aber die Verstärkungsmechanismen überwiegen. Sie gilt es, herunter zu regulieren.

Es bleibt auch nicht ohne Folgen, wenn der Körper ständig gegenhalten muss. So wird z.B. bei chronischer Entzündung mit Beteiligung des Entzündungsbotenstoffes IFNγ die Synthese des sog. „Wohlfühlhormons“ Serotonin und des Schlafhormons Melatonin gehemmt, weil gleichzeitig in erster Linie aus derselben Vorstufe, die sonst auch für die Bildung der genannten Hormone verwendet wird, die entzündungshemmende Kynurenin-Säure gebildet wird. Deren Abbauprodukt im Gehirn ist neurotoxisch und kann so neurodegenerative Erkrankungen bedingen. Ebenso können Depressionen und Schlafstörungen die Folgen sein.

Auch in anderen Bereichen haben chronische Entzündungen gravierende Folgen.

Fazit

Während vordergründig betrachtet z.B. ein Virusinfekt oder eine akute Fremdstoffbelastung der Auslöser für eine Multisystem-Erkrankung ist, kann die Ursache dafür in einem ganz anderen Bereich liegen.

Man kann davon ausgehen, dass der Körper durch ein anderes, schon länger andauerndes pathologische Stoffwechselgeschehen vorbelastet ist und dann die akute Belastung nicht mehr bewältigen kann. Ersteres muss herausgearbeitet und dann behandelt werden. Ohne das Wissen um die hier nur skizzierten Zusammenhänge ist es oft sehr schwierig, Fortschritte zu erzielen. Denn: Das eine Medikament gibt es nicht!

Vor allem ist zu berücksichtigen, dass sich ausgehend vom Ursprung weiteres pathologisches Geschehen entwickelt hat (z.B. das Geschehen in den Mitochondrien) als auch Komorbiditäten (z.B. Schilddrüsenprobleme u.v.m.), die ebenfalls berücksichtigt werden müssen.

Bei einer Therapie, die diese Zusammenhänge berücksichtigt, gibt es Chancen auf eine deutliche Besserung, bei manchen auch auf eine Heilung.

Ärztinnen und Ärzte mit einer Ausbildung in klinischer Umweltmedizin* oder funktioneller Medizin sind daher erste Ansprechpartner für Patienten mit chronischen Multisystem-Erkrankungen.

Für Ärzteverbände und Gesundheitspolitik wäre es dringend umzusteuern und sowohl die Ausbildung der Ärzte entsprechend zu fördern als auch die Behandlung über Kasse zuzulassen. Ebenso gilt es, eine möglicherweise drohende Frühverrentung zu vermeiden.

Weitere Forschung ist sinnvoll, aber es gibt schon jetzt (!) Therapiemöglichkeiten, die nicht nur denjenigen vorbehalten bleiben dürfen, die darüber informiert sind, die sie selber bezahlen können und die einen erreichbaren Behandler in ihrer Region wissen.

* (nicht zu verwechseln mit der Richtung der Umweltmedizin, die sich vorwiegend mit Hygiene und Arbeitsmedizin befasst, das sind u.a. auch die Umweltambulanzen der Uni-Kliniken)

Literatur

Martin Pall, Prof. em.
Explaining Unexplained Illnesses
Harrington Park Press 2007

Huber/Müller/Hill
Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS)
Shaker Verlag 2010

Bodo Kuklinski
Mitochondrien (2015)
Das HWS-Trauma (2010)
Aurum Verlag

Birgitt Theuerkauf
Silent Inflammation – Chronisch krank (2022)
Chronische Erkrankungen behandeln und heilen (2022)
QKD-Verlag

Sibylle Reith
ME/CFS – Erkennen und verstehen (2018)
Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen (2022)
Tredition Verlag

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